Reviews by Scroll

4 stars
Roman mit Lokalkolorit  de

Oberberg. Karin Nagelschmidt hat ihren ersten Roman vorgelegt: „Die Erbschaft”, erschienen im Bergischen Verlag. Es ist kein Lokal-Krimi, sondern eine spannende Beziehungsgeschichte. Motor der rätselhaften Handlung ist der kürzlich verstorbene Frank. In seinem Testament hinterlässt er seinen ehemaligen Studienfreunden Orazio, Gregor und Valentin ein Vermögen und eine Villa in Nizza. Einzige Bedingung: Sie müssen das Vermögen in ein humanitäres Projekt in Köln investieren, das sie als Team zu gründen haben, in knapper Frist. Erst dann gehört ihnen die Villa. Dummerweise hat sich das Trio seit 14 Jahren aus den Augen verloren. Ist die Aussicht auf die Villa Grund genug, sich zusammenzuraufen? Schon bald stellt sich heraus, dass die Männer weit davon entfernt sind, ein Team zu sein. Und der Notar Dr. Veith heizt mit Briefen des Verstorbenen die schwelenden Konflikte immer wieder an.

Erzählt wird aus der Sicht des Orazio, Kunsthistoriker mit einem Hang zu hübschen Frauen. Seine Ehe mit der kränkelnden Miriam ist freudlos, trotz der beiden Mädchen, die Orazio über alles liebt. Gregor ist der skeptische Macher, der hinter dem Nachlass üble Tricks vermutet. Valentin ist ein poetischer Träumer. Und Ada ist seine Freundin, die mit hocherotischer Ausstrahlung die Gruppe zu sprengen droht.

Nagelschmidt gelingt eine klare Figurenzeichnung der Protagonisten. Die Frauen bleiben geheimnisvoll bis zum Showdown, der alle mit Schuld und Verstrickung konfrontiert. Geschickt meidet die Autorin hier die Gefahr, ins Allversöhnende abzugleiten. Lokalkolorit ist bei ihr nie heimattümelnder Selbstzweck, sondern dient der Figurendarstellung. So entsteht eine spannende Geschichte über Liebe, Verrat und Verantwortung, Am überraschenden Ende staunt Orazio, „wie viel Einfluss das Ungesagte doch hat”. Und der Leser empfindet mit den Helden schließlich eine Art Einverständnis mit dem Leben.

Die Autorin (* 1957 in Köln) ist frisch pensionierte Lehrerin des Kaufmännischen Berufskollegs und lebt seit 30 Jahren in Gummersbach. Ihr Talent hat sie u.a. in der Gummersbacher Schreibwerkstatt entwickelt. Ihr großes Thema sind die Menschen und ihre Milieus, die sie gern und genau beobachtet. „Über mich selbst möchte ich gar nicht schreiben. Da fehlt mir die nötige Distanz.”, sagt sie im Gespräch. Das war auch der Grund, weshalb sie die männliche Perspektive für ihren Roman gewählt hat. „Mich interessiert, was der einzelne unter einem guten Leben versteht.” Und sie fragt nach den Irrtümern, an denen wir oft krampfhaft festhalten – zumindest im Roman kann sie die Menschen davon befreien. Ihr nächstes Buchprojekt wird von Flucht und Verfolgung erzählen: „Jetzt habe ich die Zeit dafür.”

Karin Nagelschmidt: Die Erbschaft – Bergischer Verlag, 317 Seiten, ISBN 978-3-945763-76-6, 13,95 €


3 stars
John von Düffels "Klassenbuch": Roman aus den soziopathischen Netzwerken  de

John von Düffel: Klassenbuch
Roman
Dumont Verlag, 317 Seiten, 22,- €, Ebook 17,90 €

Aufgemacht ist das Buch wie ein altes Klassenbuch, in das man einstmals eingetragen wurde, wenn man die Ordnung gestört hatte. Wer erwartet, dass hier Schulnostalgie abgefeiert wird, greift besser zur Feuerzangenbowle. Der Erzähler… da stock’ ich schon: Nein, es sind dann doch eher die „Einträge” eines Beobachters, die am Ende eine Geschichte ergeben sollen. Das Personal: Da gibt es neun Schülerinnen und Schüler, daneben auch Frau Höppner, die Deutschlehrerin. Die Geschichte: Um einen klassischen Erzählkern von Grille und Ameise herum blitzen Fragmente, Mails, Protokolle auf. Die Themen: Auch sie eher klassisch: Pubertät (Busensuche), Eifersucht, Schwangerschaft, Schülerliebe, Suizid, Magersucht. Aber weit und breit ist kein Törless in Sicht, keine Figur, die länger zu fesseln vermag. Denn sie alle sind sich ihrer Identität nicht mehr sicher. Haben eine Netz-Identität, klauen sich gegenseitig ihre Ich-Bruchstücke. Sie posten sich ihre Leben kaputt, auch die ihrer Mitschüler. Und Frau Höppner entschwindet. Wohin, sei nicht verraten.
Vielleicht wäre der Roman spannender geworden, wenn er aus der Perspektive der 24-Stunden-Superdrohne erzählt worden wäre, die 360°-Videos liefert von Orten, die früher einmal intim waren?
Von Düffel nutzt eine Jugendsprache, die so klingt, als wäre er mit dem Recorder im Schulbus unterwegs gewesen. Wie lange das aktuell bleibt, ist abzuwarten.
Die jungen Leute versuchen mit allen Mitteln, den Tragödien des Lebens auszuweichen. Das gelingt selbstredend nicht. Und eine Deutschlehrerin ist in dieser Welt die letzte, die es rausreißen könnte.
Spiegelungen und notierte Selfies ergeben mit Mühe eine Art Ganzes. Im Klappentext wird gefragt: Was macht die digitale Welt mit unseren Köpfen? Zu fragen wäre auch: Was macht sie mit unseren Autoren?